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Michael Marrak: Anima ex Machina

Interview

Michael Marrak: Anima ex Machina

Artist-in-Residence Michael Marrak im Gespräch mit paraflows-Festivalleiter Günther Friesinger

Michael Marrak lebt und arbeitet als freier Schriftsteller und Illustrator in Schöningen am Elm, der ältesten Stadt Niedersachsens und selbsternannten "Stadt der Speere". Auf Einladung von paraflows war er im September und Oktober als Q21 Artist-in-Residence im MuseumsQuartier Wien und spricht im Interview mit paraflows-Festivalleiter Günther Friesinger über seinen Aufenthalt und seine Arbeiten.

Günther Friesinger: Hallo Michael – dein aktueller Aufenthalt in Wien als Artist-in-Residence im Q21/MQ, eingeladen von paraflows, schließt einen Kreis, denn du hast 1997 in Wien auch deinen ersten Roman – „Die Stadt der Klage“ – in der edition mono veröffentlicht. Wie waren die letzten beiden Monate für dich in Wien?

Michael Marrak: Ich bin in Wien?
Na, Scherz beiseite. Ich habe den Aufenthalt wirklich sehr genossen, vor allem nach den entbehrungsreichen Monaten der ersten Corona-Welle und dem ersten Lockdown mit Selbstisolation, usw. Als erkennbar war, dass die Zahlen im August wieder zu steigen begannen, hatte ich Angst, dass es im letzten Moment doch noch schiefgehen könnte mit der Anreise und dem Aufenthalt. Leider habe ich von der Stadt weniger gesehen als erhofft, da das Artist-in-Residence-Projekt mit seiner Höllen-Deadline den ersten Monat komplett verschlungen hat. Allerdings bin ich auch nicht zum ersten Mal in Wien, sondern war Ende der 1990er-Jahre oft, lange und gerne in der Stadt. Insofern kenne ich vieles noch von damals. Den Wiener Dialekt, die monochrom-Truppe und die Caféhäuser hatte ich wirklich vermisst.

GF: Du hattest ja ein dichtes Programm, das du seit Ende August abgearbeitet hast. Vom Kanon-Roman „Anima ex Machina“ zur Ausstellung "Phantastische Welten" in Anger, den Free Lunch-Illustrationen, und zum Schluss noch die Plakatgestaltung zur Roboexotica 2020. Was liegt dir mehr am Herzen? Das Schreiben oder die Grafik?

MM: Sagen wir mal so: Ich lasse mich beim Schreiben gerne von grafischen Sachen und Illustrationen ablenken, sobald ich irgendwo im Text mal wieder nicht weiterkomme, und umgekehrt. Aber das Hauptaugenmerk liegt zweifellos auf dem Schreiben. Illustrieren macht zwar auch Spaß und sieht an Wänden und auf Büchern und Magazinen schön aus, ist jedoch eher Beiwerk. Nebenbeschäftigung. Aber ich möchte die Illustration als seelischen Ausgleich und eine Form, innerlich zur Ruhe zu kommen, jedoch nicht missen. Seit einem Jahr entstehen sogar wieder neue Tuschezeichnungen. Das habe ich zuvor mehr als 20 Jahre lang nicht mehr gemacht und musste den „Strich“ erst wieder erlernen.

GF: Zu Beginn deines Aufenthaltes in Wien war ja noch geplant, eine Kanon-Novelle zu verfassen. Geworden ist daraus ein Roman. Welche Bewandtnis hat es mit der Kanon-Form in deiner Arbeit?

MM: „Kanon“ benutze ich in diesem Zusammenhang für die Kanon-Welt an sich bzw. als Abkürzung für „Der Kanon mechanischer Seelen“, nicht als Anspielung auf eine Literaturform, einen Maßstab oder eine Regel. „Der Kanon mechanischer Seelen“ war sowohl der Titel der ersten Novelle (2012) als auch der des ersten Romans (2017). Da ich meine längeren Buchtitel im alltäglichen Sprachgebrauch nachträglich gerne auf ein Wort reduziere (Chronoversum, Anima, Zeitreise, Uroboros, etc.), wurden es eben die Kanon-Bücher und die Kanon-Welt.

GF: Die Handlung von „Anima ex Machina“ spielt in einer fernen Zukunft, in einer Mechawelt, in der es Menschen und Mechanoide gibt. Kannst du unseren Leser*innen, die deine Bücher vielleicht noch nicht kennen, eine kurze Einführung in diese phantastische Welt geben?

MM: Die Romane spielen in einer Zukunft, in der die Erde nur noch von wenigen Menschen bevölkert wird. Diese führen in ihren jugendlichen Körpern ein Leben, das viele Jahrhunderte währt, und manche von ihnen besitzen eine Gabe: Einzig durch ihren Wunsch und eine flüchtige Berührung sind sie fähig, Materie zu beseelen. In dieser wundersamen, von einer bizarren Mechafauna dominierten Welt lebt die Wandlerin Ninive, die auf der Suche nach uralten Relikten das Hochland durchstreift, um längst vergessenen Dingen Leben einzuhauchen und sich ihre Geschichten anzuhören. Das alles beherrschende Bauwerk ist eine vier Kilometer hohe Mauer, von der niemand weiß, wozu sie einst errichtet wurde und wovor sie die Menschen und Maschinen seit Jahrtausenden schützt.
Der erste Kanon-Roman beschäftigt sich mit der Erkundung dieser Mauer und dem Land dahinter. Der neue Roman führt den Leser in die von beseelten Maschinen bewohnte Kronstadt – und weiter zum Mittelpunkt der Zeit und schließlich in eine wüste Gegend, die als die pränumerische Öde bekannt und gefürchtet ist.
Die Romane sind eine Hommage an Stanislaw Lems „Kyberiade“ und seine Robotermärchen, an Miyazaki-Trickfilme wie „Chihiros Reise ins Zauberland“ und „Das wandelnde Schloss“, an Michael Moorcocks Epos „Am Ende der Zeit“, garniert mit einem Schuss „Alice hinter den Spiegeln“. Es finden sich darin aber auch viele weitere versteckte Zitate und Bilder aus Literatur und Film.

Photo: Christian Strassegger

GF: Vor „Anima ex Machina" sind ja auch schon „Der Kanon mechanischer Seelen“ und „Die Reise zum Mittelpunkt der Zeit“ erschienen. In welcher zeitlichen Abfolge stehen diese Bücher zueinander?

MM: Besagte Novelle, die ich 2018 für das Goethe Institut Irland und die Neueröffnung seiner Bibliothek in Dublin geschrieben hatte, ist im neuen Roman vollständig enthalten, ergänzt um drei Kapitel, die damals nicht mehr rechtzeitig fertig geworden sind, und bildet das erste Drittel des Buches, das die im Rahmen des AIR-Projekts entstandene Geschichte nahtlos an „Die Reise zum Mittelpunkt der Zeit“ anknüpft. Die Handlung des neuen Romans spielt acht Monate nach den Geschehnissen von „Der Kanon mechanischer Seelen“.

GF: Gibt es auch Überschneidungen zu anderen Büchern von dir?

MM: Die Kanon-Romane spielen im selben Universum wie meine Romane „Lord Gamma“ und „Das Aion“. Es ist nach dem Videointerview mit Robert Corvus für seinen Youtube-Kanal „Rabenloge“ kein Geheimnis mehr, dass in den Kanon-Romanen dieselbe Präsenz agiert und den Wandlern ihr Gabe verleiht, die sich am Ende von „Lord Gamma“ offenbart: das Sublime. Im ersten Roman fällt dieser Begriff gegen Ende ein einziges Mal. In ANIMA EX MACHINA trägt der dritte Buchteil den Titel „Vivat, Sublime!“, und die Entität agiert mehr oder weniger leibhaftig. Es gibt im neuen Roman auch eine Erwähnung der Ambodrusen, jener riesigen mechanischen Stratomedusen, mit denen es Mira und Konsorten im Roman DAS AION zu tun haben. Der ursprüngliche Titel von DAS AION lautete übrigens DIE MECHANISCHE WÜSTE, was dem Verlag damals aber zu SF-lastig war. Wenn die AION-Trilogie als Komplettband erscheint, werde ich sie unter diesem Titel veröffentlichen. DIE MECHANISCHE WÜSTE ist quasi die Vorgeschichte zu DER KANON MECHANISCHER SEELEN. Auch hier gibt es viele mechanische Lebensformen, doch sie sind noch nicht beseelt.

GF: Ein paar Tage nach „Anima ex Machina“ ist die Publikation „Das Haus Lazarus“ - Die besten Erzählungen von Michael Marrak · Band 2 erschienen. Welche Geschichten erzählst du in diesem neuen Buch?

MM: Sechs ältere, teils seit einer halben Ewigkeit vergriffene, und zwei neue bzw. in dieser Form erstveröffentlichte Geschichten; den Kurzroman INSOMNIA, und die Titelgeschichte selbst. Wie im ersten Band ist das Genreverhältnis wieder etwa 60% Horror und 40% SF. Im Grunde ist es ein Roman-Kontrastprogramm, ähnlich wie Anfang 2019 mit QUO VADIS, ARMAGEDDON? und  DER GARTEN DES UROBOROS. Dass die beiden neuen Publikationen im Abstand von nur 10 Tagen das Licht der Welt erblickt haben, ist Zufall. Es erschienen in den vergangenen Wochen ja auch noch drei Anthologien, in denen ich mit neuen Kurzgeschichten vertreten bin. 2020 ist in meinem Fall produkttechnisch auf zwei äußerst intensive Monate komprimiert. Im Windows-Fachjargon nennt man so etwas ein „kumulatives Update“.

Photo: Christian Strassegger

GF: Mittlerweile bist du preisgekrönt mit u.a. dem Deutschen Science-Fiction-Preis, dem Deutschen Phantastik Preis oder auch dem Kurd-Laßwitz-Preis, und zwar als Autor und als Grafiker. Wie wichtig sind dir diese Auszeichnungen, zumal die meisten ja auch kein Preisgeld bedeuten?

MM: Das mit dem Preisgeld ist schon eine Ironie, denn inzwischen ist der Deutsche Science Fiction Preis ja dotiert, doch seit es ein Preisgeld gibt, konnte ich ihn nicht mehr gewinnen. Der SERAPH, der jährlich auf der Leipziger Buchmesse vergeben wird und den ich 2018 für „Der Kanon mechanischer Seelen“ erhalten habe, ist zwar dotiert, aber bis 2018 oder gar erst 2019 nicht in der sogenannten Königsklasse „Bestes Buch“, sondern nur in der Sparte „Bestes Debüt“. Inzwischen sind glaube ich alle drei Kategorien mit Preisgeld belegt.
In der Phantastik-Szene ist ein undotierter Preis in etwa wie ein dicker, von Herzen kommender Kuss mit Urkunde. Zugleich ist es ohne Wenn und Aber eine wunderbare Honorierung und in meinen Augen auch eine wichtige Würdigung des Geleisteten. Die Bestätigung, dass die Arbeit geschätzt wird und – bezogen auf die Literatur – die Leser erfreut. Leider schafft es das Renommee eines Szenepreises nur selten aus dem Orbit der Szene hinaus in die Welt jenseits der Phantastik, so dass die SF & Fantasy samt ihrer Preise geradezu dazu verdammt ist, unter sich zu bleiben, ohne die ernsthafte Chance, der Gravitationsfalle ihres Rufes zu entkommen.

GF: Obwohl du hauptberuflich als Schriftsteller tätig bist, finden gelegentlich auch neue Illustrationen und Covermotive ihren Weg in die Öffentlichkeit. Im KOMM.ST LAB in Anger bei Weiz gibt es nun eine der ganz seltenen Gelegenheiten, dir auch mal als Illustrator in einer Ausstellung zu begegnen und sich von dir in deine phantastischen Welten entführen zu lassen. Was bedeutet dir diese Ausstellung?

MM: Es ist toll und sehr nostalgisch, alles erstmals gebündelt und im Vergleich zueinander zu sehen. Die meisten Werke stammen aus den vergangenen 15 Jahren und wurden noch nie in einer Ausstellung gezeigt. Und die letzte ist so lange her, dass ich mich gar nicht mehr erinnern kann, ob das eine Einzel- oder Sammelausstellung gewesen ist. Letzteres, glaube ich. Das müsste vor rund 25 Jahren gewesen sein.

GF: Im Finale deines Artist-in-Residence-Aufenthaltes im Q21/MQ gestaltest du das Plakat zur Roboexotica. Wie gehst du an die Umsetzung eines solchen Projektes heran?

MM: Erstmal mit Denkarbeit, dann mit Stückwerk, dass ich immer weiter zusammenpuzzle, Idee für Idee, Fragment für Fragment, Detail für Detail. Wie etwa mit den Fotos von Johannes und dir als irre Insassen eines Bus-Cockpits. Wichtig ist mir, dass es nicht nur euch gefällt, sondern auch eurem und dem Geist des Festivals entspricht und Spaß macht. Wobei ich im Fall des Roboexotica-Plakatmotivs selbst auf das Ergebnis gespannt bin. Im Moment ist ja alles noch work in progress. Wenn es aber nur halb so grenzdebil aussehen wird, wie ich es mir vorstelle, wird es ein vergnügliches Plakat werden.


Aktuelle Veröffentlichungen und Ausstellungen:

„Anima ex Machina“, erschienen am 16. Oktober 2020 in der edition mono/monochrom, Wien https://www.amazon.de/gp/offer-listing/3902796731

Michael Marrak | Phantastische Welten, Ausstellung 24. Oktober bis 18. Dezember 2020 im KOMM.ST LAB, Anger, http://www.komm.st/event/michael-marrak-phantastische-welten

„Das Haus Lazarus - Die besten Erzählungen von Michael Marrak, Band 2“, erschienen am 26. Oktober 2020 im Memoranda Verlag, Berlin https://www.amazon.de/Das-Haus-Lazarus-Erzählungen-Memoranda/dp/3948616442

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