
Interview mit Reto Emch
Ein Interview von MQ Chefkuratorin Verena Kaspar-Eisert mit dem Künstler Reto Emch über seine Installation Off-Balance.
Die Mulden werden per Bahn von Solothurn nach Wien transportiert – ein Akt, der weit über Logistik hinausgeht. Würdest du sagen, dass der Transport selbst bereits eine performative Geste ist, ein integraler Bestandteil der skulpturalen Arbeit?
Ganz bestimmt. Seit meinen künstlerischen Anfängen war es mir wichtig, meine Interventionen in den öffentlichen Raum zu bringen. Ich verfolge mehrere Strategien in der Arbeit mit Kunst oder in der Bearbeitung von Kunst. Es sind dies die Entwicklung, die Erforschung einer Arbeit oder eines künstlerischen Ausdrucks; das künstlerische Schaffen als Realisierung im Atelier; der handwerkliche, kreative Prozess; die Präsentation im Ausstellungsraum. Wieso soll der Weg zur Ausstellung in geschlossenen Kisten stattfinden, wenn man seine Arbeit auch bereits auf dem Weg zeigen kann? Die Überführung der Mulden auf einem Flachwagen per Bahn betrachte ich bereits als Performance. Deshalb sind die Mulden auf dem Wagen auch entsprechend angeordnet und platziert und nicht einfach ineinandergestapelt wie bei einem Lastwagentransport. Die Innenfläche mit ihrer silbernen Bemalung ist nach außen gerichtet, sodass die Farbe in der Nacht reflektiert. Die Mulden sollen wie Bildschirme wirken.
Welche Bedeutung misst du dem Thema Transport im Kontext des Kunstbetriebs bei – insbesondere im Hinblick auf seine ökologischen Implikationen? Möchtest du das Spannungsfeld zwischen globaler Mobilität und ökologischer Verantwortung, das für viele Künstler:innen ein reales Dilemma darstellt, explizit thematisieren?
Ein ökologisches System explizit zu thematisieren, ist nicht mein erster Impuls. Meine Skulptur ist Skulptur. Gleichzeitig umfasst sie auch Malerei: Die Behälter sind Malerpaletten, die auslaufende Farbe Bild. Die ganze Gruppe ist Installation. Als solche darf sie majestätisch wirken und soll auch Kritik ertragen. Führt Off-Balance als Installation zu Interpretationen, bediene ich sehr gerne ein kritisches Denken.
Grundsätzlich finde ich es wichtig, dass die Menschen reisen und nicht die Kunst. Im globalen Kunstmarkt ist dies heute jedoch praktisch nicht mehr möglich. Kunstwerke werden über den ganzen Globus verschoben, denn die Museen möchten sich die Highlights teilen. Es ist ein Milliardengeschäft geworden, alle verdienen irgendwie mit. Off-Balance ist Ausdruck dessen, wie wir mit alldem umgehen. Von dem zu entsorgenden Müll bis hin zur kunsthistorischen Bedeutung und millionenschweren Anlage. Heute wird alles herumgeschoben. Wir stehen auf der Kippe und befinden uns in Schräglage.
Off–Balance zeigt handelsübliche Mulden in einer labilen, beinahe tänzerischen Schräglage – sie kippen, vergießen Farbe, scheinen aus dem Lot geraten. Welche Bedeutung hat das „Ungleichgewicht“ für dich – im künstlerischen, gesellschaftlichen oder vielleicht auch persönlichen Sinne?
Die Bewegung ist ja alles. Bei Off-Balance ist es der Kippmoment, der bereits die Bewegung suggeriert. Wie das Innehalten, ein Nachdenken, mit dem darauf folgenden erwarteten Ablauf. Für mich als Künstler lebt die Kunst im Atelier am meisten. Dort baue ich, dort mache ich Versuche, bearbeite Farbe zu Bildern, Material zu Objekten oder Dinge zu Skulpturen. In diesem Prozess ist das Balancieren eine Notwendigkeit. Es ist ein stetes Abwägen von Entscheidungen. Für mich ein sehr lebendiger Akt.
Deine Arbeiten bewegen sich häufig im Spannungsfeld von Monumentalität und Poesie, von logistischem Aufwand und kontemplativer Geste. Was reizt dich an dieser Ambivalenz zwischen Maßstab, Fragilität und Materialität?
Ich habe keine Angst vor der großen Geste, und ich mag auch das sehr Kleine. Der Ort dafür muss stimmen. Das Aufeinandertreffen beider mag ich sehr. Eine meiner früheren Arbeiten war ein großes Wasserbecken mit einem Durchmesser von acht Metern, das an den acht Säulen im Zentrum der Pariser Spitalskirche La Chapelle Saint-Louis de la Salpêtrière angebracht war und frei hing. Das Becken fasste 10.000 Liter Wasser. Im Wasser spiegelte sich die ganze Kuppel. Nach einer Weile fiel ein einziger Wassertropf aus 35 Metern Höhe in das Becken und zerschlug den Wasserspiegel. Der Aufprall dieses Tropfens war in der ganzen Kirche zu hören, in den vier Seitenkapellen wie auch in den vier Kreuzgängen. Das Wasser in diesem Becken, eine enorm große Masse, bestehend aus Millionen von Einzeltropfen, hat einen weiteren Tropfen in sich aufgenommen und ist damit gleichzeitig gewachsen.
Technisch war es sehr anspruchsvoll, einen fallenden Tropfen über dutzende Meter zu halten. Anfangs fiel der Tropfen immer auseinander. Nach vielen Versuchen fand ich schließlich die Lösung. Solche technischen Herausforderungen zu meistern, erfordert ebensoviel Kreativität und Ausdauer wie das Erschaffen eines Kunstwerks.
Du arbeitest mit Materialien wie Eisen, Wasser oder Licht – Materialien, die oft funktional konnotiert sind. Welche Rolle spielt Materialität für dich, insbesondere solche, die aus industriellen Prozessen stammt?
Ich mag es, Material anzufassen. Der haptische Moment ist wichtig. Die Sinnesorgane werden angeregt. Eisen zum Beispiel ist nicht einfach ein Metall. Eisen ist beim Anfassen auch kalt. Oder sehr heiß. Es ist glatt und zart, es kann fragil sein oder stur. Lieb oder böse. Man muss damit umgehen können. Ich bearbeite das Material mit meinen Händen. Ich habe viele Jahre fast ausschließlich Bilder gemalt. Dafür habe ich nie einen Pinsel verwendet. Ich musste die Acrylfarbe auf meiner Haut spüren, um sie auf dem Bildträger aufbringen zu können. Heute male ich praktisch nicht mehr, sondern verteile Farbe. Dafür baue ich mir Geräte.
Nachdem die Mulden aufgestellt sind, bringst du mit einem selbst entwickelten Apparat silberne Farbe in die Behälter ein, die dann nach unten und über den Boden rinnt. Siehst du diesen Akt als malerische Geste – als eine körperlich-gestische Handlung im Sinne des Action Painting? Oder ist es eher ein kontrollierter, präzise kalkulierter Vorgang, der sich nur scheinbar dem Zufall überlässt?
Es ist zweifellos eine körperliche, gestische Aktion. Auch wenn ich dazu eine Pumpe verwende, welche durch eine Bohrmaschine angesteuert wird. Ich bewege mich auf dem Bild, das ich erzeuge. Der Druck, den ich auf die Farbe gebe, ist kontrolliert, und das Bearbeitungsfeld ist im Voraus definiert. Wie die Farbe dann gemäß dem Terrain verläuft und wie weit mich meine Spontaneität und Aktionslust treiben, ist dann eher dem Zufall zuzuordnen.
Die Farbe Silber verstärkt die industrielle Anmutung der Arbeit und verweist auf Materialästhetik und Lichtreflexion, vielleicht auch auf Vorstellungen von Wert oder Oberfläche. War diese Farbauswahl in Hinblick auf solche Assoziationen bewusst getroffen?
Ich wollte eine helle, reflektierende Oberfläche schaffen. Dazu kann ich einen Vergleich heranziehen, der mir hier als Vorbild diente: Beobachtet man bei heller Sonne eine sich wiegende Wasseroberfläche, ist das Glitzern der Sonnenlichtreflexion für unser Auge so stark, dass man deren Farbe gar nicht erkennt. Es ist einfach sehr hell, es blendet. Manchmal so stark, dass man fast nicht hinsehen kann. Und trotzdem muss man es immer wieder tun, weil es so faszinierend ist. Für Off-Balance wollte ich eine Farbe, die nicht farbig ist. Als Gegenpol zu den stark verrosteten Eisenkörpern schien mir Silber diesbezüglich die beste Lösung, und im Gegensatz zu Rost wirkt es edel. Vielleicht erhaben. Es trifft den Stolz. Einen Stolz, den das Eisen nicht hat.
Die Realisierung deiner großformatigen Installationen erfordert die Zusammenarbeit mit zahlreichen Akteur:innen aus unterschiedlichen Bereichen. Wie nimmst du diese Form der Kollaboration wahr? Welche Rolle spielt sie für dein künstlerisches Selbstverständnis?
Das Zusammenspiel unterschiedlichster Bereiche ist richtig herausfordernd. Ich treffe mich mit Handwerkern aller Gewerke und darf mir deren Wissen und Erfahrung aneignen. Für Off-Balance arbeite ich mit Schlosser:innen, den Eisenmännern und -frauen, zusammen und tausche mich mit ihnen aus. In gemeinsamen Experimenten kommen wir auf Lösungen, doch dann treffen wir auf Ingenieure und Statiker:innen, die völlig anderen Vorstellungen haben. Diesen Grat zu meistern, erfordert viel Ausdauer und Geduld. Die Metallbauer:innen agieren aus Erfahrung und gesundem Menschenverstand, die Statiker:innen basierend auf Zahlen und Tabellen und die Künstler:innen nach ihren Träumen. Wer bestimmt am Schluss das Kunstwerk? Wenn man sich eine installative Arbeit wie Off-Balance ansieht, kann der Gedanke nicht fehl sein, dass da einfach ein paar Baumulden an der Fassade stehen. Was es an Vorbereitung braucht, soll ja nicht Gegenstand sein, ist aber enorm. Allein die Auflage, dass die auf zwei unterschiedliche Steinplatten ausgegossene Farbe wieder entfernbar sein muss – und gleichzeitig über mehrere Monate und bei sehr vielen Passant:innen haltern soll –, setzt eine lange Versuchsreihe im chemischen Labor des gewillten Farbenherstellers voraus. Ein solches Produkt existierte bisher nicht im Verkauf. Es wurde für diese gegebene Situation entwickelt.
Entstehen deine Konzepte zunächst im Rückzug, aus einer autonomen künstlerischen Reflexion heraus, oder ist der Austausch mit anderen bereits früh Teil des konzeptuellen Prozesses?
Viele meiner Arbeiten entwickeln sich aus meinen inneren Bildern. Sie tauchen auf. Sie kommen einfach. Es ist kein Traum oder Tagtraum, eher eine Art Ausschalten im Tagesgeschehen. Während ich eine Situation beobachte, während eines Gesprächs oder einer Fahrt schieben sich andere Bilder hinein. Das kann man Rückzug nennen. Ein In-sich-Zurückgehen, während dem man gleichzeitig auch tätig sein kann. Meine Partnerin Anet Fröhlicher ist Choreografin. Sie entwickelt eigene Projekte und ist mit ihnen international unterwegs. Wir tauschen uns über unsere Projekte aus, meist beim Abendessen. Täglich. dadurch haben wir stets ein oeil extérieur. Wir beide agieren spartenübergreifend. Meine Interventionen dehnen sich in ihr Bühnenbild aus, ihre Tanzanalysen hinterlassen eine Geste in meiner Skulptur. Es ist ein täglicher Austausch, der entsprechend auch in die Anfangsphasen eines Projektes hineinwirkt.
Was möchtest du, dass Besucher:innen empfinden oder erkennen, wenn sie Off–Balance vor der barocken Fassade des MuseumsQuartier erleben? Geht es dir um Irritation, poetische Verschiebung, gesellschaftliche Reflexion – oder vielleicht um ein Innehalten im urbanen Raum?
Um alle diese Dinge, die du hiermit so schön beschrieben hast, danke dir, Verena. Und wenn es ganz gut läuft, erahnen wir ein ganz kleines Lächeln auf ihren Lippen.
Reto Emch Off–Balance
26.06. bis 12.10.2025 l Installation vor dem MuseumsQuartier Wien
In seiner Arbeit Off–Balance inszeniert der Schweizer Künstler Reto Emch handelsübliche Bauschuttmulden als skulpturale Körper in prekärer Schräglage. Aus den geneigten Behältern rinnt silberne Farbe langsam über den Rand und bildet am Boden abstrakte Spuren – eine kontrolliert ausgelöste, dennoch poetisch-offene Geste, die an das Action Painting erinnert. Die Mulden selbst – industriell gefertigt, schwer und funktional – werden zum Träger eines sensiblen Gleichgewichts zwischen Kontrolle und Zufall, Materialität und Bedeutung, Monumentalität und Zerbrechlichkeit.