Tatiana ist eine 22-jährige Studentin und Künstlerin aus der sibirischen Stadt Tomsk, die zu neun Jahren Gefängnis verurteilt wurde, weil sie 30 Dollar in die Ukraine gespendet hatte. Am ersten Tag der groß angelegten Invasion Russlands in der Ukraine im Februar 2022 spendete Tatiana zehn Dollar an einen ukrainischen Fonds. Nachdem im April 2022 Berichte über Kriegsverbrechen russischer Soldaten in Butscha aufgetaucht waren, spendete sie weitere 20 Dollar.
Zwei Jahre später durchsuchte die Polizei ihre Wohnung, loggte sich in ihr Smartphone ein und verschaffte sich Zugang zu einem Chat mit Tatianas bester Freundin, die in Dnipro in der Ukraine lebt. Tatiana wurde wegen „Hochverrats“ angeklagt, den sie durch „finanzielle Unterstützung eines ausländischen Staates für Aktivitäten gegen die Sicherheit der Russischen Föderation“ begangen haben soll, und zu neun Jahren Haft verurteilt. Ihr Prozess fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, was gegen den Grundsatz der Transparenz im Justizsystem verstößt und Tatianas Rechte verletzt.
Die Einzelheiten von Tatianas Fall wurden der Öffentlichkeit von Ksenia Fadeeva, einer weiteren politischen Gefangenen und Kollegin von Alexei Navalny, bekannt gemacht. Ksenia traf Tatiana zufällig in einer Gefängniszelle und teilte Tatianas Geschichte anschließend der Presse und Menschenrechts-NGOs mit. Tatianas Fall macht deutlich, dass in Russland viele Menschen aus politischen Gründen inhaftiert sind, die Öffentlichkeit jedoch nichts von ihren Situationen weiß. Aus diesem Grund betonen Menschenrechtsorganisationen in Russland immer wieder, dass die tatsächliche Zahl der politischen Gefangenen in Russland viel höher ist als derzeit angenommen. Im Gefängnis unterhält Tatiana einen regen Briefwechsel und erstellt Zeichnungen im Anime-Stil.
„Ich ging zurück in meine Zelle und verspürte eine überwältigende Freude – nur neun Jahre!* Meine Zellengenoss:innen sahen mich an und sagten, dass es vielleicht am wichtigsten sei, dass ich glücklich bin. Dennoch sind neun Jahre eine sehr lange Zeit. Meine Geschichte ist in der heutigen Realität zu etwas Alltäglichem geworden. Meine Selbstgespräche und meine Zeichnungen sind wie ein Denkmal für diese Zeit. Ich möchte alles bewahren, damit ich, wenn dieser Horror vorbei ist, meine Gedanken noch einmal lesen und meine Erinnerungen wieder aufleben lassen kann.“
*Hochverrat ist in Russland ein Verbrechen, das mit 12 bis 20 Jahren Gefängnis bestraft wird.
Kunstwerk von artemis
